Rezensionen 2023


Peter Hoffmann schrieb über "21 Stufen bis zur Tür":


Samstagabend im Jahre 1960. Eine junge Frau lag in den Wehen und wartete auf den Krankenwagen - vergeblich. Da holte die Mutter der Frau einen Handwagen, „der sonst dem Transport von Kartoffeln und Rüben oder auch von den zugeteilten Briketts oder Braunkohle diente, aus dem Schuppen, polsterte ihn mit Kissen und Decken aus und los ging die Fuhre.“ Der werdende Vater zog den Wagen Richtung Geburtsklinik in die Nachbarstadt, entledigte sich unterwegs seiner Pantoffeln, rannte auf Strümpfen weiter. Am folgenden Tag erzählte man sich, dass „jemand in letzter Minute mit einem Handwagen in rasendem Tempo auf nur zwei Rädern die Kurve vor dem Krankenhaus genommen hatte.“

In ihrer eben erschienenen Anthologie „Einundzwanzig Stufen bis zur Tür“ lässt die Niegripper Autorin und Herausgeberin Dorothea Iser 54 Autorinnen und Autoren aus Sachsen-Anhalt zu Wort kommen, über deren Leben, ihre Erlebnisse und Befindlichkeiten im Gestern und Heute berichten. Ausgelöst von den durch Corona bedingten Einschränkungen reifte in ihr der Entschluss, der Vereinsamung der Menschen etwas entgegenzusetzen. „Mein Herz wird singen“ nannte sie den Aufruf, mit dem sie Kollegen, Mitgliedern von Schreibgruppen, Behinderten aus geschützten Einrichtungen und Anderen die Möglichkeit bot, sich mit ihren Texten in das Vorhaben einzubringen. Ihre Überzeugung: „Wir alle gehören zusammen, als eine Gemeinschaft, eine Gesellschaft, in einem Buch!“

Entstanden sind 240 Seiten von ganz und gar unterschiedlichen Leuten über die man getrost sagen kann, dass sie einen Querschnitt der Gesellschaft zumindest in unserem Bundesland repräsentieren.

Das Entstandene hat durchaus Potential, zur Überwindung von Einsamkeit und Ängsten beizutragen sowie dem Verlust von Fähigkeiten entgegenzuwirken: Der Leser wird bei der im Buch gespiegelten Lebensvielfalt mit großer Wahrscheinlichkeit etwas finden, das ihn ganz persönlich betrifft. Er wird die Bestätigung erfahren, dass er mit seinen Hoffnungen, Ängsten, Wünschen und Beobachtungen nicht so allein ist, wie er es bisher vielleicht glaubte.

In der Titelgeschichte bringt eine Mutter ihrem spastisch gelähmtenSohn mit nicht enden wollender Liebe und Geduld das Treppensteigen bei. In einer anderen erzählt eine Frau von den ganz persönlichen Folgen sexuellen Missbrauchs, die sich bei ihr in Sich-Ritzen und Essenverweigerung manifestieren. Die durch die Pandemie oft unfreiwillig entstandene Zeit zum Nachdenken hat manche Wunde wieder aufgerissen.

Aber das Leben hat auch andere Seiten, wie u.a. die eingangs erwähnte Episode zeigt. Gefühle kommen in diesem Buch manchmal polternd wie die eisenummantelten Räder eines Handwagens daher und dann wieder sanft und verhalten, wie z.B. in Thurid Winklers Geschichte „Meine Großeltern sind geschrumpft“ - eine Momentaufnahme von zwei Menschen, die, in Liebe miteinander alt geworden, ihre Mittagsruhe auf der Gartenterrasse verbringen.

Sicher, das Leben wäre auch ohne dieses neue, von Dorothea Iser herausgegebene Buch weitergegangen. Aber sie, die seit Jahrzehnten nicht nur selber schreibt, sondern betreut, motiviert, zusammenführt, hat sich wie der Zöllner in Brechts berühmten Gedicht „Legende von der Entstehung des Buches Tao te king auf dem Weg des Laotse in die Emigration“ mit ihrem Schreibaufruf tiefsinnig denkenden Menschen in den Weg gestellt und Lebensweisheiten gesammelt.

Was dabei entstand, hat oft erschreckend mit unseren derzeitigen Befindlichkeiten, unserem realen Leben zu tun. Da steht zum Beispiel die Frage: Was machen die gegenwärtigen Kriegs- und Existenzängste aus und mit den Menschen? Eine ganz persönliche Antwort darauf bietet Samira Bäger in ihrer Geschichte „Ist in deinem Kopf kein Platz zum Träumen?“ Die Schülerin, Jahrgang 2005, lässt ihren Helden sagen: „Nein, geht weg. Die ganze Welt geht unter, ich habe keine Zeit, mich mit euren Hirngespinsten zu befassen.“ Welch erschreckende Äußerung eines Heranwachsenden, die sicher kein Einzelfall ist!

Die lebenserfahrene Herausgeberin findet in diesem Zusammenhang andere Worte für ihren Weltschmerz: „zeit fließt ins meer/im geäst derweiden/ hocken schwarze vögel/ das land schläft/ in den winter.“

Was ist wahr? Was ist richtig? Wie klar ist unser Bild von dieser Welt und uns selber darin? 54 Sachsen-Anhalter haben in „Einundzwanzig Stufen bis zur Tür“ schreibend Antworten u.a. auf diese Fragen gesucht. Sind sie fündig geworden?

Der Autor und Fotograf Rolf Winkler aus Gommern, dessen Texte und Fotografien dem Buch u.a. Momente zum Verweilen und Sich-Sammeln geben, nennt seine Antwort: „meine dunkelheit ist voller licht“.


„Einundzwanzig Stufen bis zur Tür“

Hrsg.: Dorothea Iser

dorise-Verlag,240 Seiten


Frau Dr. Stockmann schrieb zur Premiere von "21 Stufen bis zur Tür" berührende Gedanken sowie zum Buch selbst...


Liebe Frau Dorothea Iser,

 

vielen Dank für die gestrige, mich sehr berührende Buch-Präsentation (10.05.2023).

Herzlichkeit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Mut prägen das „Klima“ in Ihrer Anthologie „Einundzwanzig Stufen bis zur Tür“. Welch ein symbolträchtiger Titel, auch für Menschen, die nicht gehbehindert sind, wie der damals sechsjährige kleine Junge in der gleichnamigenGeschichte!

Viele Ihrer Autorinnen und Autoren- selbst mir sind einige von ihnen seit Jahrzehnten bekannt - und Nachwuchsautoren kommen zu Wort. Ihre Gemeinsamkeit ist die Freude an Selbstreflexion und innerer Entwicklung, egal, wie alt sie sind, denn die Entwicklung geht bis zum Tod - ebenso die Liebe. Der beeindruckende Liedermacher, EddieWeimann, den wir bei der Buch-Präsentation erleben durften, hat dies uns allen musikalisch noch näher gebracht.

Diese Anthologie ist in einer (unserer) Zeit entstanden, in der sich leider immer mehr ein anderer Blick auf das Leben durchzusetzen scheint, welcher der Befriedigung (nicht von Bedürfnissen, sondern) von Gier dient. Und wir wissen: Gier verstellt den Blick auf die Realität, was die Gefährdung unserer Existenzbedingungen zur Folge haben kann.

Selbstreflexion kommt vor allem bei Menschen an, die sich selbst gern reflektieren, um die Stufen des Lebens zu erklimmen; vielleicht sind es einundzwanzig. Darin unterscheiden sich nicht: Die Jungen, die Alten, die Gesunden und Kranken, Menschen mit „Handicap“ oder individuellem Schicksal, mit oder ohne Migrationshintergrund und andere.

In zwischenmenschlichen Beziehungen entstehen Konflikte, die universell sind. Diese große Spannweite spiegelt sich in der Anthologie wider.

 

Schauen wir in die Zeitgeschichte: Keine Selbstreflexion wünschen u. a. Menschen, die ihr Leben auf der Grundlage von Selbstüberschätzung aufbauen. Gar nicht selten wird und wurde dieses Verhalten mit finanziellen Vorteilen belohnt. Diejenigen, die sich selbst, das Leben und die Welt, in die sie hineingeboren wurden, erkennen wollen, ehe ihr irdisches Daseinbeendet ist - und anderen ebenso dabei helfen möchten - sind dagegen dankbar über finanzielle Förderung und Spenden,

z. B. für wertvolle Bücher. Oder anders ausgedrückt: Wer sein Leben und das der Mitmenschen innerlich bereichern möchte, wird materiell gesehen, meist nicht reich damit.

Ich fühle mich mit den 54 Autoren und überhaupt mit Autoren verbunden, die sich in erster Linie für den inneren Reichtum entschieden haben. Durch ihre Texte fördern sie Resilienz bei sich selbst und ihren Lesern.

 

Ihre Moderation, Ihr Umgang mit den Autoren und Gästen ist und war geprägt durch Herzlichkeit, Ehrlichkeit sowie Aufrichtigkeit. Und den Mut aller an der Anthologie Beteiligten, den Menschen zur Wahrnehmung von Gefühlen, zur Berührung durch Schreiben und Lesen zu verhelfen - anstatt ihnen aus Eigennutz „Futter zum Konsumieren“ vorzusetzen - begrüße ich sehr. Diesen sehe ich gleichermaßen bei Ihnen.

An diesem Mut arbeite auch ich gern und ständig weiter, inzwischen nicht mehr als Ärztin in eigener Niederlassung, sondern als Autorin im Stockwärter Verlag.

 

Die Photos mit Text imText

von Rolf Winkler haben

mich ebenso angesprochen:


Photos, aufgeblättert,

tauchen sie plötzlich auf.

Zugeblättert beim Weiterlesen,

scheinen sie zu vergehen.

Trotzdem sind sie immer da

und verbinden die vielen Teile

in Texten und in Bildern.

Anscheinend widersprüchlich sind:

„drinnen und draußen,

oben und unten,

Dunkelheit voller Licht,

Leichtigkeit im Schweren ...“

Eben so wie das Leben:

eine Medaille mit zwei Seiten,

ewig und vergänglich.

 

Um mit den Worten des Liedermachers zusprechen:

Leben, bleib! Vergänglichkeit und Tod sind ein wichtiges Thema, auch im Buch. Mit Ihren Worten aus einem Ihrer schönen Gedichte gesprochen „vergeht“ der Tag  „in der Zeit“ für immer, rettungslos, „nur Erinnerung lässt ihn auferstehen“.

Schreiben heißt auch für mich: leben und erinnern, festhalten und loslassen.

Am Ende der Anthologie schreiben Sie abrundend auf S. 221, dass Sie das Lied der Nacht „von Liebe und Weh“ verstehen können

und „schließen das Fenster“, welches wir alle einmal schließen müssen - und zwar dann für immer. Aber noch nicht jetzt gleich. Das Fenster sehe ich als Symbol für unsere Augen.

Trost für mich und andere:

Wenn die Welt nicht zerstört wird, sondern erhalten bleibt, in welcher Form auch immer.

Den besonderen Wert einer Anthologie sehe ich in der transgenerationalen Weitergabe von wertvollen Gedanken, Ideen und Erfahrungen. In diesem Sinne habe ich auch Ihr Buch mit Anteilnahme und sehr gern gelesen. 

 

 

Mit herzlichen Grüßen

und bestem Dank

 

Dr. Ingrid U. Stockmann

 

 

sowie mit den besten Grüßen und Wünschen von

Bernd Stockmann und meiner Schwester (der Autorin) Margit Schiwarth-Lochau



Wieder Osterhase in die Welt kam- wer möchte das nicht gerne wissen!



Heike F.M. Neumann beantwortet diese Frage auf spannende und amüsante Weise. Durch den Irrtum der Füchsin, begünstigt durch ihre Trauer,hat das Hasenjunge die Chance unter ihrem Schutz aufzuwachsen. Von den vermeintlichen Fuchs-Geschwistern wegen seines Aussehens und fehlenden Jagdtriebes gehänselt, verliert es nicht den Mut und gibt nicht auf. Der vermeintlich schwache kleine Hase erkennt sein „Anderssein“ und nutzt seine Stärken, indem er warnt, sich selbst aber in Sicherheit bringt. So findet er tierische und menschliche Freunde. Als die Füchsin den herangewachsenen Jungen die Prüfungsaufgaben für den „Raubtierpass“ stellt, sind die Fuchsbrüder eben nicht listig. Sie fallen durch die Prüfung, einzig der kleine Hase erfüllt mit Hilfe seiner Freunde die Aufgabe, ein Ei zu bringen. Das ärgert die Füchsin so sehr, dass sie ihn als nicht zur Familie gehörenden„Hasen“ bloßstellt. Bevor sie ihn verstoßen kann, nimmt der kleine Hase selbst Reißaus. Noch hat er nicht die Kraft, selbstbewusst seinen eigenen Weg zu gehen. Er nimmt die Hilfe seiner Freunde in Anspruch, die ihm zeigen, dass die Welt vielfältig und bunt ist. Wenn er den Kindern die gemeinsam bemalten Ostereier versteckt, wird er auch bald eine Hasenfamilie finden, zu der er gehören kann.

Diese Geschichte ist so einfühlsam erzählt, dass sich Kinder mit dem Häschen identifizieren können, ohne den Fuchs als „böse“ zuverdammen. Es gibt trotz der natürlichen Gegensätze zwischen einem Raub-und einem Nagetier kein „gut“ und „böse“, jeder hat seine Daseinsberechtigung, seine Schwächen und Stärken.

So weichen die Charakterzüge der handelnden Tiere vom üblichen Klischee ab, die Füchsin ist nicht listig, sie kann auch traurig sein. Sie hat menschlich, humane Züge, indem sie ein Hasen-Findelkind aufnimmt, von dem sie noch nicht weiß, ob es in dieFuchsfamilie passen und sich mit den Fuchsgeschwistern vertragen wird. Wenn sie lügt, tut sie das, um ihren Irrtum nicht zugeben zu müssen. Erst als sie die Wahrheit heraus brüllt, verliert sie das Vertrauen des „Adoptivkindes“.

Das Hasenkind ist zuerst ängstlich, behauptet sich aber zwischen den„Fuchs“geschwistern, ist offen für Neues und findet deshalb Freunde, die ihm helfen. Es hat auch den Mut, nachdem es die„Lebenslüge“ erkannt hat, einen eigenen, unabhängigen Weg zugehen. Keine Spur mehr von einem „Hasenfuß“.

Das Buch vom „Osterhasen“ von Heike F.M. Neumann weicht von allen Klischees ab und sie erzählt auf spannende und amüsante Weise eine Geschichte, die auch für Erwachsene durchaus lehrreich ist.

Die Zeichnungen von Sabine Riemenschneider untermalen die Geschichte so plastisch, dass man denken könnte, man sitzt gemeinsam mit dem Häschen auf der „Löwenzahnwiese“ oder man begegnet gleich den geflüchteten „Fuchskindern“. Die Künstlerin ist ein Glücksgriff für die Gestaltung der Geschichte, Text und Bilder sind untrennbar miteinander verbunden.

Ich habe das Buch mit größtem Vergnügen gelesen und empfehle allen, es in die Osterkörbchen ihrer Kinder zu legen.

Dr.Gabriele Schubert




Heike F.M.Neumann, Zeichnungen Sabine Riemenschneider

„Wieder Osterhase in die Welt kam“

Erschienenim Dorise Verlag unter ISBN 978-3-946219-57-6




Geschichten aus einer zauberhaften Welt


Gleich zwei neue Kinderbücher legte die Zella-Mehliser Autorin Heike F. M. Neumann im Frühjahr und Sommer dieses Jahres vor. Während "Die Froschprinzessin und das Krokodil", zauberhaft illustriert von Sabine Riemenschneider, im dorise-Verlag Erfurt erschien und sich an Kinder ab 5 Jahren richtet, publizierte die seitvielen Jahren anerkannte Autorin "Die Suche nach der blauen Blume. Märchen- und Sagenhaftes aus Thüringen" im THK Verlag Arnstadt. Hierfür schuf Dagmar Lüke die Bilder, die wunderbar auf längst vergangene Zeiten weisen.

Wie vom Titel versprochen, führt "Die Froschprinzessin und das Krokodil" in eine märchenhafte Welt, die gleich "jenseitsder Mauer des Zoos" beginnt, in das "Königreich der liebenswerten Smaragdfrösche". Dahin flieht ein kleines Krokodil, weil alle vor ihm Angst haben. Dabei ist es doch gar nicht böse! Die etwas vorwitzige Froschprinzessin scheint das zu bemerken. Das ist der Stoff, in den Kinder einsteigen können: Abenteuererleben. Und unter der Hand Klischees ad absurdum führen. Im Buch gelingt das mit Begegnungen und Herausforderungen, zu denen SabineRiemenschneider treffliche Begleitbilder fand. Wer ist groß, wer klein? Und warum fürchten sich so viele – wovor eigentlich? Ganz nebenbei bringt das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Lebenswelten auch eine Portion Humor hervor, wenn beispielsweise die Froschprinzessin ihren neuen Krokodilfreund beim Verzehr gegrillter Fliegen die Frage stellt: "Schmeckts dir etwa nicht?" So kann man unterschiedliche Lebenswelten veranschaulichen. Nach manchen Irrungen und Wirrungen steht dann natürlich eine Hochzeit an. Wer wohl der Auserwählte sein wird? Derjenige, der sich einsetzt für das, was er liebt. So einfach. So märchenhaft. So wichtig fürs Leben.

"Die Suche nach der blauen Blume" richtet sich an ältere Kinder. Die Autorin nennt 8 - 9 Jahre als Zielalter. Der Band vereint vier Geschichten, von denen der Titeltext mit 33 Seiten der weitauslängste ist. In seinem Mittelpunkt steht der Färberwaid, der insbesondere die Stadt Erfurt einst reich machte. Heike F.M. Neumann spannt darum eine mit vielen Märchenelementen gespickte Geschichte, die klar in Gut und Böse trennt und geschickt Spannungsbögen spannt. Mag sein, dass die Vielzahl der auftretenden Personen und angerissenen Situationen die Leser herausfordern mag. Anregungen,sich danach der Geschichte des Färberwaids zuzuwenden, bietet sie allemal. In "Die Königin der Bienen" wendet sich Neumann in kindgerechter Weise der Frage zu, was ohne Bienen geschehen würde.Hier gelingt es ihr, in einen flüssigen Erzähltext eingebettet, Folgen des unbedachten Umgangs mit der Natur deutlich zu machen. Das Märchen reicht so kaum merklich in die Gegenwart. In "Goldmarie"verlegt Heike F.M. Neumann den Handlungsort kurzerhand ins Schwarzburgische und macht eine Geschichte um den dortigen Bergbau daraus. Goldmarie wird nach einer rechten Rumpelstilziade schließlichzu einer Wasserfee, die Gold gibt. So kommen neue Lesarten alter Legenden zustande. Die Zella-Mehliser Dichterin lässt sich auf dieses Wagnis ein.

In dem eher als Erzählung angelegten Text "Vom Glasmännchen" scheint Heike Neumann das Genre aufzuweiten und bringt eigene  Kindheitserlebnisse ein. Die besonders im Thüringer Süden angesiedelte Glasfertigung gerät hier in den Mittelpunkt und mit ihr alte Wanderglashütten, deren Spuren bis heute zu finden sind. Ob 8-bis 9-Jährige allerdings mit all den benutzten Begriffen etwasanfangen können, vermag der Rezensent nur bedingt einzuschätzen. Aber auch Schüler dieses Alters beherrschen gewiss schon die Suchfunktionen auf ihrem Handy. Und der versöhnlich in die Gegenwartreichende Schluss der Erzählung führt die Leser vielleicht dazu, mit einem Blinzeln im Blick künftig auch Anderswelten gleich nebenan als möglich anzusehen. Dieses Buch hat das Zeug, zur Lektüre für mehrere Altersklassen zu werden. Erste Lesungen bezeugen das Interesse, sich Thüringer Themen auf kindgerechte Weise zu nähern.Die Autorin leistet dazu mit ihren beiden sprachlich klar und sachlich verfassten neuen Werken einen wichtigen Beitrag. Es ist an uns, solcher Literatur wieder einen größeren Raum zu geben.

HolgerUske


DieFroschprinzessin und das Krokodil. Illustriert von SabineRiemenschneider. ISBN 978-3-046210-64-4, 32 Seiten, dorise-VerlagErfurt 2023, 19,80 €

DieSuche nach der blauen Blume. Märchen- und Sagenhaftes aus Thüringen.Illustriert von Dagmar Lüke. ISBN 978-3-945068-95-3, 72 Seiten,THK-Verlag Arnstadt 2023, 14,50 €



Ein Buch gegen das Vergessen


Halle, den 29.11. 2021

Liebe Frau Dr. Ingrid Ursula Stockmann,


mit Dankbarkeit nahm ich das Buch „Annis gestohlenes Kindheitsglück“, geschrieben von Ihrer Mutter Anni Margot Skorupa und Ihnen, aus meinem Briefkasten.

Erschienen ist es im Stockwärter Verlag, den ihr Sohn Bernd Stockmann leitet. Über book on demand, Norderstedt, wurde es gedruckt.

Auf dem Cover sehe ich ein Foto von Anni Margot. Im Klappentext hinten stehen Sätze, die auf den Inhalt hinweisen:

„Eines der vergessenen Kinderschicksale: Margot Skorupa ist Jahrgang 1928. Sie schreibt über ihre Kindheit bis zum Abschluss der Volksschule 1942 … die Eltern mussten als Widerstandskämpfer am Ende des Krieges ihr Leben lassen. Sie hinterließen sechs Kriegsvollwaisen, die als Kinderfamilie weiterlebten.“

Gemäß meiner Angewohnheit, Bücher von hinten anzufangen, finde ich ein dreiseitiges Inhalts - ebenso ein Abbildungsverzeichnis. Den Texten und biografischen Leseabschnitten, Zeitdokumenten sowie Malereien von Anni Margot ist ein Gedicht von 1965 vorangestellt.

Und schon bin ich mitten im Lebenslauf. Elly und Otto Jäger wurden drei Mädchen und nacheinander drei Jungen geboren. Otto führte einen „Tante Emma Laden“ und ein Wandergewerbe.

In diesem Geschäft trafen sich die Genossen der KPD. Denn er engagierte sich als Propaganda- und Kulturleiter einer Ortsgruppe in Tangermünde.

„… der  junge Vater wurde 1924 aus politischen Gründen erstmals inhaftiert.“(S. 8)

Anni Margot beschreibt das Alltagsleben einer kinderreichen Familie und ihre frühesten Kindheitserlebnisse. Kaum zu glauben, dass sie schon als Baby im zarten Alter von einigen Monaten bewusste Erinnerungen abgespeichert hatte. Dies gibt es nur bei hochbegabten Menschen.

Auf S. 19/20 finde ich eine hommage auf Elly, ihre „… liebe, schöneMutter.“

Besonders beachtenswert finde ich, dass diese Frau ihre Kinder nicht ausschimpfte oder bestrafte, wenn sie scheinbar Unfug gemacht hatten. Sie blieb sanft und versuchte zu ergründen, warum ihre Kinder so handelten. In einer Zeit, in der die Prügelstrafe in der Schule noch nicht angeschafft war und gängige Praxis in anderen Familien, konnte sie ihre Kinder Zuhause davor schützen.

Die kurzen Kapitel-Leseabschnitte lockern das Buch auf, lassen detailgenau Anteil nehmen am Schicksal des politisch aktiven Widerstandes des Vaters und der Mutter gegen das aufkommende Hitlerregime. Seine Haftzeiten sind genau dokumentiert. Er war davon überzeugt: „Wer Hitler wählt, wählt Krieg.“

Anni Margot, die kleinere und jüngere Schwester der zwei Erstgeborenen, musste so manchen Drangsal ihrer älteren Geschwister über sich ergehen lassen. Diese wollten mit anderen Kindern spielen, Anni Margot war ihnen eine Last. Jede Beleidigung nahm sie ernst und litt Zeit ihres Lebens darunter.

„Die Angst vor Hundebissen verlor ich erst, als ich schon ein Pflichtjahr-Mädel war.“(S. 23/24)

Auf S. 37 gab es „Familienglück“: „Man kann sagen, uns ging es finanziell sehr gut ... Am Sonntag hatte die Familie Zeit und war vereint. Meine Mutter arbeitete in jungen Jahren als Köchin und Bäckerin ...“

Ein Erlebnis musste Anni Margot schwer erschüttert haben. Nachbarn überfielen abends in der Dunkelheit mit Brutalität die Eltern: „Die Nachbarin wurde von ihrem Mann unterstützt, indem er einen Spaten hervorholte und meinem Vater mit der Schnittstelle ins Gesicht schlug… er hatte eine tiefe Verletzung im Gesicht und blutete stark …Meine Eltern wussten nicht, dass ich Zeugin dieser Freveltat war …Danach fing für uns die Hölle an… Gleich nach Hitlers Machtergreifung kam mein Vater ins Konzentrationslager.“ (S. 40)

„ … wurde er im Moorlager Emsland bei Papenburg (Börgermoor) inhaftiert.“(S. 44)

„Wir vermissten den Papa und oft auch die Mama. Ohne Geldquelle musste sie arbeiten, denn das Leben musste ohne den Ernährer weitergehen.“(S. 45)

„Die Entlassung aus dem KZ erfolgte im Sommer 1934. Zu Haus wurde heimlich das Lied „Wir sind die Moorsoldaten…“ gesungen. Damals wusste ich nicht, dass die kommunistischen Häftlinge dort den Text und die Melodie mit dem Schauspieler Langhoff selbst erschaffen hatten.“(S. 49).

An dieser Stelle des Buches weinte ich. Denn ich kenne das Lied, wir sangen es im Musikunterricht. Ich fühlte durch die dichte und nahegehende Schreibweise der Autorin alles nach. Trotzdem liest sich das Buch flüssig und schnell.

„ … eines nachts … zwei Beamte forderten meine Mutter auf: „Ziehen sie Ihre Kinder schnell an … Sie sind verhaftet.“ Wir wurden von der Mutter getrennt. Sie weigerte sich, den Hetzbrief (gegen Hitler) abzuschreiben. Unsere Mutter wurde misshandelt und schrie entsetzlich. Diese Schreie vergaß ich nie, und damit war meine Kindheit beendet.“ (S. 50/51)

„Mein Vater wurde Anfang 1937 aus dem KZ Sachsenhausen entlassen.“ (S.57)

Im „Nachwort“ heißt es: „Beinahe hätten unsere Eltern 1945 den Frieden miterleben können. Unserem Vater fehlte ein viertel Jahr und unserer Mutter zehn Tage … Seit Ende 1945 galt meine Mutter als vermisst … Die Wahrscheinlichkeit ihrer Ermordung durch einen jugendlichen `Wehrwolf`

ist sehr hoch … „ (S. 97)

„Meine Eltern wurden tot geschwiegen. Damit soll jetzt Schluss sein.“ (S.98)

Dieses Buch hat mich erschüttert. Es ist unmöglich für mich, mich dem zu entziehen. Was ich mich jedoch gefragt hatte:

Warum konnten in der DDR, einem Staat, der den Antifaschismus als Staatsdoktrin inne hatte, diese Leben als Widerstandskämpfer keinerlei Beachtung finden? Aufkeimenden Faschismus gibt es in der Gegenwart zur Genüge. Gab es auch in der DDR. Genau aus diesem Grund muss das Buch eine weite Verbreitung finden. In Halle sollte es einen Straßennamen „Elly und Otto Jäger - Straße“ geben. Das wäre späte Gerechtigkeit.

Anni Margot verstarb im Alter von 90 Jahren. Ihnen als ihre Tochter ist es zu danken, dass Sie das Leben ihrer Großeltern und Mutter in ehrendem Gedenken wach halten und mit diesem Buch der Öffentlichkeit nahe bringen.

In dankbarer Verehrung und Hochachtung verbleibe ich mit herzlichsten Grüßen, ihre Leserin Annegret Winkel-Schmelz.